Fallbeispiel Geflüchteter , , Woran erkennt man, dass sich ein Mensch dem islamischen Extremismus zuwendet? Was tun, wenn sich ein Mensch radikalisiert, den man betreut?
Diesen Inhalt gibt es auch auf
Es ist oft schwer zu erkennen, ob sich ein Mensch islamistischen Kreisen zuwendet. Das gilt besonders dann, wenn man wenig Einblick in den Alltag einer Person hat. So kann es zum Beispiel Betreuungspersonen mit ihren Schützlingen gehen, die in Einrichtungen wie Geflüchtetenunterkünften arbeiten. Sie haben nicht zu allen Geflüchteten einen engen Kontakt. Die Beratungsstelle Radikalisierung steht den Betreuenden beratend zur Seite, wenn diese Sorge haben, dass sich ein Klient oder eine Klientin dem Islamismus zuwendet. Diese Möglichkeit nutzte auch Bessems* Betreuer.
Streit um den wahren Glauben
Bessem fiel seinem Betreuer zum ersten Mal auf, als der junge Mann mit einem anderen Geflüchteten aneinandergeriet. Lauter werdende Stimmen hallten durch die Gänge der Unterkunft. Wütende Wortsalven, die durch geschlossene Türen hämmerten. Bessems Betreuer war sofort auf den Beinen. Im Gang standen sich die Männer in dem schmalen Durchgang gegenüber, zu nah, als dass ein Zuschauer ruhig hätte bleiben können. Den Flur entlang öffneten sich Türen, immer mehr Menschen liefen auf die beiden Männer zu, versuchten, sie zu beruhigen, zogen sie voneinander weg. Gemeinsam mit dem Betreuer zerrten sie Bessem, der nicht aufhörte zu brüllen, in das nächste Büro. Als die Männer Bessem losließen, begann er rastlos auf und ab zu laufen, während er weiterredete. Um was es gegangen sei? Um den wahren Glauben! Und damit meine er nicht das, was diese "Ungläubigen" hier in der Unterkunft täten. Er meine Hingabe, Demut, striktes Einhalten von Regeln. Bessem redete und redete. Irgendwann schien er müde zu werden. Er ging langsamer, schien regelrecht in sich zusammenzufallen, kleiner zu werden. Er wolle in sein Zimmer, sagte er. Nein, heute werde es keinen Ärger mehr geben, versprochen.
Radikalisiert sich Bessem?
Bessems Betreuer ließen der Streit und das Gespräch keine Ruhe. Er sah den jungen Mann immer noch vor sich, wie er das Wort "Ungläubige" aussprach. Die Verachtung, die er in diesem wütenden Gesicht gelesen hatte, löste auch jetzt noch Unruhe in ihm aus. Das war nicht nur eine einfache Auseinandersetzung gewesen, da war sich der Betreuer fast sicher. Es steckte mehr dahinter.
In den nächsten Tagen sprach er mit Kolleginnen, Kollegen und anderen Geflüchteten, um mehr über Bessem herauszufinden. Der junge Mann war 21 und aus einem Kriegsgebiet geflohen. Die Flucht hatte Monate gedauert. Viel mehr wussten die Anderen nicht über Bessem. Nur, dass er nachts oft im Schlaf schrie, weinte und sich stundenlang kaum beruhigen konnte. Und noch etwas war einigen in letzter Zeit aufgefallen: Der sonst so ruhige Bessem hatte andere Geflüchtete aggressiv auf ihren Glauben angesprochen und sich dabei schon mehrmals in Rage geredet.
Glaube und Unterdrückung
Bessems Betreuer wartete, bis die meisten Geflüchteten draußen Fußball spielen waren und klopfte dann an die geöffnete Tür des Zimmers, in dem der junge Mann wohnte. Er saß allein auf seinem Bett. Ob er Zeit habe zu reden? Bessem nickte und blieb sitzen. Sein Betreuer zog sich einen Stuhl neben das Bett. Er habe gehört, dass der Glaube wichtig für Bessem sei, wie das gekommen sei? Der junge Mann hatte die Arme verschränkt. Er zuckte die Schultern. Das sei ihm eben wichtig, ihm und seinen Freunden aus der Moschee in der Nähe. Der Glaube und dass sich die Muslime endlich gegen den Westen wehrten. Als sein Betreuer weiterfragte, zuckte Bessem nur mit den Schultern und schwieg.
Hilfe durch die Beratungsstelle Radikalisierung
Bessems Betreuer dachte lange über das Gespräch mit seinem Klienten nach, über den niemand viel zu wissen schien. Es fiel ihm schwer, den jungen Mann einzuschätzen. Wer waren diese Freunde aus der Moschee, über die Bessem gesprochen hatte? Waren sie gefährlich? Radikalisierte Bessem sich? Wie sollte er mit Bessem am besten umgehen? Sollte er noch mal versuchen, mit ihm zu reden? Der Betreuer sprach lange mit einer Kollegin über den Fall und beschloss letztendlich, eine Einschätzung von Fachleuten einzuholen, die sich mit dem Thema Radikalisierung auskennen.
Er rief die Beratungsstelle Radikalisierung an und arbeitete gemeinsam mit der Hotline-Mitarbeiterin einige Punkte heraus, die tatsächlich auf eine Radikalisierung Bessems hinweisen konnten. Sie empfahl ihm, Kontakt zu einem ihrer Kooperationspartner aufzunehmen, der Erfahrung im Umgang mit Radikalisierung habe. So könne er den Fall gemeinsam mit einem Berater vor Ort im Auge behalten. Vielleicht könne man Bessem, der in der Unterkunft so viel alleine war, Schritt für Schritt in eine Glaubensgemeinde integrieren. Die Sicherheitsbehörden müsse man erst einmal noch nicht einschalten. Die Sicherheitsbehörden zu benachrichtigen sei nur dann nötig, wenn von Bessem eine Gefahr für andere Menschen auszugehen drohe. Bisher war das der Einschätzung des Betreuers nach nicht der Fall.
Gemäßigter Islam und psychologische Betreuung
Aktuell besucht ein Imam, der mit der Beratungsstelle vor Ort zusammenarbeitet, Bessem regelmäßig in der Geflüchtetenunterkunft und spricht mit ihm über Glaubensfragen. Der junge Mann scheint sich zunehmend für den gemäßigteren Islam zu öffnen. Daneben hat die Beratungsstelle eine psychologische Betreuung für Bessem organisiert, damit er die traumatischen Kriegs- und Fluchterlebnisse verarbeiten kann. Das Betreuungsteam der Unterkunft und die Fachleute der Beratungsstelle vor Ort tauschen sich regelmäßig aus, um Bessem bestmöglich zu unterstützen und aus seinen islamistischen Kreisen herauszuholen. Der Betreuer fühlt sich durch die Hilfestellung der Beratenden sicherer, wie er mit der Situation weiter umgehen soll.
*Der Fall Bessem ist fiktiv. Wir behandeln alle Informationen unserer Anruferinnen und Anrufer streng vertraulich, deshalb wird hier kein reales Beispiel beschrieben.